Als John Ruskin, der englische Schriftsteller und Kunsthistoriker, im Jahr 1851 seine Gedanken und Beobachtungen zu Venedig in dem monumentalen Werk “The Stones of Venice” zusammenfasste, war es vor allem ein Gedanke, der seine Zeitgenossen erregte: dass er der byzantinischen und gotischen Kunst den deutlichen Vorzug gab vor der Architektur der Renaissance. Diese stehe fuer Konvention und Symmetrie, erklärte er, jene aber fuer Kraft, Treue und Spiritualität. Selbstverständlich war ihm nicht entgangen, wie scheinhaft diese Kunst und Technik war: Allenfalls zehn Zentimeter dick sind die marmornen Fassaden, eine Huelle nur, und dahinter verbirgt sich das Profane, das Rohe und Unbehauene.

Was eine Gesellschaft ist und wie sie mit sich selber umgeht, das ist, so John Ruskin, an diesen Fassaden zu erkennen: Sie sind entstanden, weil sich gegen Ende des dreizehnten Jahrhunderts in Venedig eine Oligarchie des Erbadels durchsetzte, die den größten Teil der Bevölkerung von aller Politik ausschloss und alle Macht, allen Glanz und allen Ruhm auf sich vereinigte - und sich selbst in ebenso gewaltigen wie truegerischen Ornamenten manifestierte. John Ruskin war der erste Gelehrte, der auf den Gedanken kam, eine Stadt daraufhin zu lesen, welche Gesellschaft in ihren Bauten, in ihren Straßen und in ihren Plätzen Gestalt annahm. Andere taten es ihm nach, auch in Hinblick auf Venedig. So der Philosoph Georg Simmel zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, der in Venedig “nur ein entseeltes Buehnenbild, nur die luegenhafte Schönheit des Maske” erkannte. Doch dann verlor sich der Gedanke, und je mehr Jahre dahingingen, und je mehr Venedig zu einem der größten Anziehungspunkte des internationalen Tourismus wurde, desto mehr verselbständigte sich die Fassade: zum lebendigen Denkmal einer einzigartigen geschichtlichen Konstellation, das in einem Umfang erhalten ist wie sonst kein historisches Relikt auf der Welt. Der deutsche Philosoph, Kurator und Kreativdirektor Wolfgang Scheppe, der an der Universität fuer Architektur in Venedig (IUAV) lehrt, legt nun ein Buch vor, das sich nicht nur vom Umfang her mit John Ruskins “Stones of Venice” messen kann. Zusammen mit Assistenten und Studenten aus seinem “Seminar fuer die Politik der Repräsentation” hat er ueber drei Jahre hinweg eine Dokumentation geschaffen, in der,so scheint es, fast alle kulturellen, sozialen, politischen und wirtschaftlichen Bewegungen der Stadt fixiert sind, in Tausenden von Fotografien, in Essays und Interviews, Statistiken, Bewegungsprofilen, Schaubildern und Diagrammen. “Migropolis” heißt das Buch, und es trägt seinen Untertitel zurecht: “Venice - Atlas of a Global Situation” (Hatje/Cantz Verlag, Ostfildern 2009. 1344 Seiten, 68 Euro). Denn es ist genau dies: ein Atlas der Globalisierung, der eine weltweit bekannte Stadt neu kartiert.

John Ruskin hatte fuer “The Stones of Venice” achthundert Kirchen besucht, um ihren Bau und ihre Kunst minutiös festzuhalten. Wolfgang Scheppe und seine Mitarbeiter taten Ähnliches für das zeitgenössische Venedig. Und hervor tritt keine Kunstgeschichte, sondern das aktuelle Bild einer Stadt, die im wahrsten Sinne des Wortes global ist, durch die sich, gleichsam in unzähligen Kanälen, die Geld-, Macht- und Menschenströme des gegenwärtigen Weltzustands ziehen, in Gestalt der imitierten Damentaschen von Louis Vuitton, der moldawischen Putzfrau, des chinesischen Touristen und des illegalen Einwanderers aus dem Senegal. In Form von Kreuzfahrtschiffen und Andenkenläden, in den brachliegenden Industrieflächen von Mestre und den Coca-Cola-Automaten, die der dazugehörige Konzern nach einem eigens zu diesem Zweck geschlossenen Vertrag mit der kommunalen Verwaltung ueberall in der Stadt aufstellen ließ.

John Ruskin hatte sich eine Leiter geben lassen, um am Grabmal fuer den Dogen Andrea Vendramin dessen unbearbeitete Rückseite zu sehen. Etwas Ähnliches geschieht in Wolfgang Scheppes Werk: Man blickt hinter die Fassade, sieht das Falsche, und augenblicklich ist man imprägniert - nicht nur wegen den “ignoranten Sentimetalismus” (Georg Simmel) der Bewunderung fuer Venedig. Wie ist das zum Beispiel mit den Werbe plakaten, die, angefangen bei den gigantischen “billboards”, von denen die Gebäude am Markusplatz verhängt sind, bis hinunter zu den Postern auf den öffentlichen Muelleimern, ganz Venedig in eine Schaufläche verwandeln? Fuer die größten Plakate muessen je siebzigtausend Euro pro Monat an die Gesellschaft entrichtet werden, die im Auftrag der Stadt die realen und potentiellen Werbeflächen verwaltet, fuer zehn kleine Poster zwei Euro (einen langfristigen Vertrag vorausgesetzt). Und dieses gigantische Geschäft funktioniert nur, weil die Touristen, die in Massen durch Venedig ziehen, als zu bewirtschaftende Öffentlichkeit behandelt werden können, wobei der geschlossene Raum dieses “centro storico” und die daraus resultierende totale Präsenz und Unvermeidlichkeit der Werbung deren ökonomischen Wert überproportional steigert.

“Migropolis” dokumentiert Zahl und Größe der “billboards” auf einer Karte, in zahlreichen Varianten, und hält deren Sinn und wirtschaftliche Bedeutung in einem Kommentar fest. Wie ist das mit den Kreuzfahrtschiffen, die Venedig anlaufen? Das größte Hotel der Stadt bietet 85 Gästezimmer, ein Schiff bis zu mehrere tausend Kabinen. Wobei dessen Passagiere, wenn sie an Land gehen, mehr Geld in den Geschäften und bei den fliegenden Händlern lassen als Reisende, die auf anderen Wegen kommen: Der kurze Aufenthalt an einem symbolisch so aufgeladenen Ort muss durch den ebenfalls symbolisch ueberhöhten Kaufeines auch symbolisch wertvollen Gegenstands (die - möglicherweise imitierte - Tasche von Louis Vuitton, die Kette von Chopard, die Brille von Armani) symbolisch bestätigt werden. Hunderte solcher Geschichten hat dieses Werk zu erzählen, und eine jede hinterlässt eine tiefe Beunruhigung, die quälende Sorge, dass es so nicht zugehen darf und dass es doch so zugeht. “Migropolis” ist ein Augenöffner. Daher die vielen Bilder.

In New York leben 251 Menschen auf tausend Quadratmetern. Umgerechnet auf dieselbe Fläche, empfängt die Stadt 27 Besucher pro Tag. In Paris kommen, wiederum auf dieselbe Fläche bezogen, neun Besucher auf 205 Einwohner. In Venedig: 56 auf 75. Dieses schon groteske Verhältnis zwischen einer immer weiter schrumpfenden innerstädtischen Bevölkerung und einem immer mächtiger anschwellenden Strom von Touristen prägt die Stadt längst bis in ihre letzten Ziegel. Und es ist der Grund für eine ausgedehnte “Kollateral-Ökonomie”, die Venedig innerhalb Europas zu einem zentralen Anziehungspunkt für (illegale) Einwanderer macht.

“Sie sind emigriert als Arbeitssuchende und erreichen mit Europa eine Zone, in der ihnen Arbeit wie Existenz verboten sind”, heißt es im so gelehrten wie klugen und - nicht zuletzt - auch politischen Vorwort von Wolfgang Scheppe. “Die einzige verbliebene Option eines autopoietischen Marktes ist auf Passanten in der Öffentlichkeit angewiesen. Er kann nur in den Metropolen des Tourismus existieren.” So wird Venedig zu einer Stadt an der Grenze Europas, zu einer Kreuzung, an der sich die beiden größten Ströme von Wanderern treffen, die Touristen und die Emigranten, zu radikal ungleichen Bedingungen, zum Ort der extremen Polarisierung und der bis ins Äußerste gesteigerten globalen Ökonomie.

Denn woher kommen, um nur ein Beispiel zu nennen, die T-Shirts mit den bunten Aufdrucken, von San Marco und Rialtobrücke, die fuer zehn Euro an die Besucher verkauft werden? Aus Bangladesh etwa, einem Land, das viele (illegale) Emigranten produziert, weil Subsistenzwirtschaft und globale Ökonomie einander grundsätzlich ausschließen. In diesem Sinne ist Venedig eine “dual city”, eine jener globalisierten Metropolen, in denen eine tiefgreifende, meist ethnisch markierte soziale Spaltung nicht mehr Ausdruck einer irgend gearteten “Krise” ist, sondern notwendige und dauerhafte Konsequenz einer Wirtschaftsform.

Und als solche muss man sie, wider alle Kulturromantik, ernst nehmen: Denn Venedig mag ein bewohnbares undbegehbares Denkmal sein, mit den Schlafstädten, Einkaufszentren und Industriezonen der “terra ferma” ist es nur durch eine Bruecke verbunden. Aber wiederholt sich in dieser Trennung nicht, in radikalisierter Form, das Verhältnis von ikonischer Stadt und urbanem Ballungsgebiet, das jede Metropole auszeichnet nur, dass es hier auf eine fast tausend Jahre lange Geschichte zurückgreifen kann? Eines muss noch erwähnt werden, und es ist nicht das Unwichtigste: “Migropolis” ist auch ein Kunstwerk, und das liegt nicht nur daran, wie kunstvoll und eindringlich hier mit Fotografien und graphischen Formen, mit der Typographie und mit seriellen Figuren gearbeitet wurde. Es liegt auch nicht daran, dass vor allem die Fotografien hier, vielleicht weil sie vor allem in Gestalt von Fotostrecken daherkommen, eine enorm aufschließende, erhellende, oft schlagartig aufklärende Wirkung besitzen.

Es ist hier vielmehr auch eine Tradition zu erkennen, die zu Guy Debord und den Situationisten zurueckfuehrt, zu den Kunstprojekten einer dezidiert gesellschaftskritischen ästhetischen Avantgarde der fuenfziger und sechziger Jahre, in denen es darauf ankam, historische und soziale Bewegungen zu visualisieren. Auch die Idee, Venedig in einer solchen großangelegten “dérive”, einer so totalen wie analytischen Beschreibung des alltäglichen Lebens zu unterwerfen, geht auf Guy Debord und die “Psychogeographie” zurü ck. Mit wahrhaft erstaunlichen Folgen: Belehrender, umfassender, gebildeter als in dieser Arbeit ist zeitgenössische Kunst selten geworden - eigentlich müsste man nun aufbrechen, um sich die dazugehörige und offenbar ganz anders gestalte Ausstellung anzusehen, die am 8. Oktober, in der Fondazione Bevilacqua am Markusplatz eröffnet wird und noch bis zum 6. Dezember zu sehen sein wird.