Die benutzte Stadt

Straßenleben: Ein Fotoband über den Alltag von New York

“Endcommercial” - so haben drei Künstler das Projekt genannt, das sie seit 1997 verfolgen und nun als Buch veröffentlicht haben. Florian Böhm, Luca Pizzaroni und Wolfgang Scheppe sind mit Digitalkameras losgezogen, die Spuren zu dokumentieren, die der Mensch in der Großstadt hinterläßt. Sie wollten untersuchen, wie der Mensch sich seine urbane Umgebung zu eigen macht, wie er die natürlichen Gegebenheiten - Straßen, Laternen, Hauseingänge - für seine Bedürfnisse nützt, sich mit ihnen einrichtet. Und weil die drei in New York leben, haben sie es am Beispiel dieser Stadt getan.

Hydranten zum Beispiel. Die stehen, in New York zumindest, an jeder Straßenecke. Sie sind etwa so hoch wie Schemel und haben eine glatte, breite Oberfläche, die zum Draufsitzen geradezu einlädt. Und da die Städteplaner das menschliche Grundbedürfnis nach Sitzen enorm unterschätzen und nicht, wie es angenehm wäre, alle paar Meter ein paar Stühle oder Bänke anbieten, werden die Hydranten kurzerhand zweckentfremdet. Auf Hydranten sitzende Menschen - erschöpft, versonnen, in ein Buch vertieft - gehören zum New Yorker Stadtbild wie gelbe Taxis oder Hochhäuser. Und die Geschichte geht weiter: Weil die New Yorker Stadtverwaltung der Ansicht ist, Hydranten seien dazu da, Wasser zu liefern, und zu nichts anderem, läßt sie an immer mehr Hydranten Stacheln anbringen, die ein Draufsitzen verhindern sollen. Im Sitzen verändert der Mensch die Oberfläche der Stadt.

Oder Abreißzettel. Um mit Unbekannten in Kontakt zu treten, bedient sich der Stadtmensch eines alternativen Kommunikationswegs: Er schreibt seine Angebote oder Gesuche auf Zettel, fügt seine eigene Telefonnummer zum Abreißen hinzu und klebt diese dann an Laternenpfähle oder Wände, wo sie von anderen gelesen werden können. Kaum eine Laterne, die nicht in Augenhöhe mit vielen Schichten von Papier beklebt wäre; täglich wird alles abgerissen, täglich kommt neues hinzu.

Oder Einkaufswagen. Eine vielseitig einsetzbare Erfindung. Wie vorgesehn werden sie zum Transport von Einkäufen benutzt; Obdachlose bewahren ihr ganzes Hab und Gut darin auf, das sie auf diese Weise problemlos mit sich herumtragen können; sie dienen als Transportmittel für gesammelte Dosen, die sich gegen Pfand eintauschen lassen - für viele Arme in New York die einzige Einnahmequelle.

Wie der Mensch in der Großstadt sich seine Nische schafft, wie er sie sich nach seinen Bedürfnissen zunutze macht, ein wenig erinnert das an die Dokumentationen über wilde Tiere in New York, die bisweilen im Fernshen gezeigt werden. Seltene Libellenarten, Kanadagänse, Raubvögel und Waschbären leben tatsächlich mitten in Manhattan. Die Dächer der Hochhäuser dienen ihnen als Nistplätze, sie brüten auf den Markisen der Fifth Avenue und jagen in Mülltonnen nach Eßbarem. Die Stadt als Dschungel, man hat gehört davon.

Der Fotoband “Endcommercial”, der mehr als tausend Bilder zeigt, und vollkommen ohne Text auskommt, ist eine Spurensuche. An Pfosten festgekettete Überreste ausgeweideter Fahrräder zeugen von den Grenzen der Mobilität - und von der kriminellen Energie so manches Stadtbewohners. Straßenverkäufer, die ihren Ramschstand in der nobelsten Gegend aufgebaut haben, erzählen von den Grenzen des Kapitalismus: Nobelmarken wie Prada oder Gucci geben ein Vermögen für die horrenden Ladenmieten aus und teilen sich das Laufpublikum mit Leuten, die alte Bücher oder Billigschmuck verscherbeln. Menschen tragen auf Sandwich-Schildern Botschaften am Körper und werben als wandelnde Litfaßsäulen für ein bestimmtes Restaurant, eine Partei oder Jesus. Stühle stehen angekettet vor Häusern und erzählen davon, daß hier jemand im Sitzen seine Arbeit tut. Schriften - auf allem, was sich beschreiben läßt, auf Autotüren, Schaufenstern, Wänden, mehr oder weniger kunstvoll angebracht. Und immer wieder: Plastiktüten. In allen Formen und Farben bergen sie Einkäufe oder Müll, werden herumgetragen oder stehen auf der Straße und geben der Stadt ein buntes, glänzendes Gesicht.

Böhm, Pizzaroni und Scheppe arbeiten normalerweise in der Öffentlichkeitsarbeit und in der Markenkommunikation. Bei diesem freien Projekt, sagen sie, sei die Stadt selbst ihr Klient gewesen. Der Auftrag: ihren wahren Chrakter sichtbar zu machen. Und der offenbart sich eben nicht in den Postkartenansichten der Sehenswürdigkeiten, sondern im scheinbar Alltäglichen, in den kleinen Details, an denen man so oft unachtsam vorübergeht. Wer ihre Fotos gesehen hat, wird anders durch die Stadt gehen. Mit gesenktem Kopf, was New York betrifft.

Als Ausstellung wird “Endcommercial” vom 12. September bis zum 1. Oktober im Haus der Kunst in München zu sehen sein. Im Netz läuft das Projekt weiter: Unter www.endcommercial.com wird das Fotoarchiv täglich ergänzt - mehr als 60.000 Fotos umfaßt es bisher.