Vor vier Jahren nahm ein Studentenkollektiv des Architekturinstituts der Universität Venedig unter der Leitung des deutschen Philosophen und Professors Wolfgang Scheppe ein gigantisches Projekt in Angriff.

Das Ziel: aus Feldforschungen in der Stadt eine umfangreiche Studie zu entwickeln, die den Sehnsuchtsort Venedig – am Kreuzungspunkt dreier Korridore der Migration - als europäische Frontstadt definiert, in der eine dezimierte innerstädtische Bevölkerung mit einem ständig wachsenden Millionenheer des Tourismus und einer Parallelökonomie illegaler Immigranten zusammentrifft. Herausgekommen ist das zweibändige Werk Migropolis – Atlas einer globalen Situation – eine faszinierende Fusion aus Bildband und Sachbuch. Frank Fingerhuth stellt die Studie vor.

Wählen wir zwei prägnante Fotografien aus dem Fundus von über 2.000 Bildern der beiden Bände aus, die mehr über Venedigs Situation aussagen als detaillierte Erklärungen: Auf dem ersten schiebt sich mit vorgerecktem Bug ein Kreuzfahrtriese durch einen Kanal. Dabei bewirken die Proportionen des Schiffes eine geradezu absurde Verzwergung der historischen Stadtkulisse. Auf dem zweiten Foto sehen wir ein gigantisches Werbebanner des Luxusuhrenherstellers Chopard, mit dem ein Teil der Fassade des Dogenpalastes verhängt ist und das zudem den Ausblick auf die berühmte Seufzerbrücke ruiniert. Ein Ausdruck der Haltung zu Venedig, die Angela Vettese im Vorwort „Venedig begreifen“ treffend charakterisiert.

«Jeder möchte Venedig „besitzen“: es sehen, begreifen, beurteilen, ein kleines Stück davon kaufen – das ist schon beinahe pervers. Es gibt Menschen, die buchen Kreuzfahrten nur zu dem einzigen Zweck, 45 Minuten lang vom Balkon ihrer Außenkabine die Stadtsilhouette anzustarren- während die Schiffe – die oft riesigen Wolkenkratzern ähneln – in den Giudecca-Kanal eindringen, um dann in das große Becken am Markusplatz einzulaufen.» (S. 12)

Die umfangreiche Studie, die Wolfgang Scheppe mit seinen Studenten in mehrjähriger Arbeit auf Englisch verfaßt hat und die jetzt im Wettbewerb um die „schönsten deutschen Bücher“ auch wegen ihrer hervorragenden Gestaltung ausgezeichnet wurde, ist die geglückte Synthese aus wissenschaftlicher Akribie, sinnfälliger Darstellung, thematischer Vielfalt und visueller Einprägsamkeit, die den Leser und Betrachter sofort in den Bann zieht. Dadurch entsteht ein Bild der Lagunenstadt, das sich fundamental von dem unterscheidet, das sich Touristen von Venedig machen. Schon das Titelbild dieser schwergewichtigen Bände läßt erkennen, welche Thematik den Leser erwartet: Vor der weltberühmten Fassade der mächtigen Barockkirche Santa Maria Della Salute kreut eine Gondel den Canal Grande. Die Passagiere sind fünf schwarze Straßenhändler, die ihre mehr oder weniger geschickt gefälschten Markenartikel in blauen Plastiksäcken mit sich führen – immer auf dem Sprung vor der Polizei, die den meist illegalen Einwanderern aus Afrika, vorwiegend dem Senegal, pausenlos auf der Spur ist. Diese Menschen sind repräsentativ für den Migrantenstrom, der über das kleine Mittelmeereiland Lampedusa auf Venedig zuläuft. Aber auch Menschen aus den ehemaligen Ostblockländern lassen sich in der Lagunenstadt nieder, weil sie sich davon eine bessere Zukunft erhoffen. So entwickelt sich – zusammen mit dem enormen Tourismuszulauf aus aller Welt – eine brisante Gemengelage.

«Die starre Beschaffenheit Venedigs als ein universaler Ort der Sehnsucht sorgt für die nachhaltige Attraktivität, die für den Zustrom aller möglichen Interessenparteien verantwortlich ist. Angesichts des verfügbaren Raumes in der Stadt treten diese Parteien als überwältigende Massen auf.» (S. 118)

Aus diesen Massen haben Wolfgang Scheppe und sein Studentenkollektiv Fallstudien herausgefiltert, die von Interviews und sorgfältig komponierten Fotostrecken begleitet werden. Ergänzt werden diese durch graphisch exzellente und aussagekräftige Diagramme und Statistiken. Und gerade dadurch, daß die Bildstrecken und großformatigen Einzelfotos die absurde Situation der Stadt so eindringlich abbilden, wird dem Leser das Dilemma Venedigs offenbart und damit auch beispielhaft das Dilemma der schrankenlos globalisierten Stadt. Darin hat Romantik keinen Platz. Genau das aber macht diese Studie ebenso wertvoll wie einzigartig. Das erste großformatige Foto von Band 1 zeigt den Blick durch das Schaufenster eines farbenprächtig dekorierten Souvenirgeschäfts, in der Mitte ein handgeschriebenes Schild mit der Aufschrift: „Inside Only to Buy – Zutritt nur für Käufer“. Die Habenichtse dieser Welt bleiben also außen vor. Und das ist bekanntlich nicht nur in Venedig der Fall