Die Gesellschaft des Spektakels mit ihren eigenen visuellen Mitteln kritisieren: Ein Bilderatlas analysiert Venedig als globale Stadt und bietet einiges an Einsichten in ihre Ökonomie.

Zum Thema Venedig kann man beim Internetversand Amazon in Deutschland gegenwärtig 13 900 Titel bestellen. Doch die kürzlich erschienene Studie “Migropolis” mit dem programmatischen Untertitel “Venice. Atlas of a Global Situation” ragt aus der Masse der Venedig im Titel führenden Literatur deutlich heraus. Nicht nur, was den Umfang angeht: Das zweibändige Werk umfasst immerhin 1344 Seiten. Vielmehr weist die Studie alle Voraussetzungen dafür auf, zu einem Klassiker der Stadtsoziologie zu werden.

Der an der venezianischen Architektur-Universität lehrende Philosoph Wolfgang Scheppe hat zusammen mit Assistenten und Studenten eine Analyse der Lagunenstadt erarbeitet, die weitgehend Neuland betritt. Das zugrunde liegende theoretische Konzept wird nur in wenigen, relativ kurzen Essays formuliert; den Großteil der Bände nehmen Interviews und insbesondere die visuelle Darstellung der Ergebnisse durch kommentierte Grafiken und Bilder ein. Es sind Bilder, die konträr stehen zur bekannten Venedig-Ikonographie der Rialtobrücke und der Gondeln, der Markuskirche und des Dogenpalasts. Vielmehr sehen wir hier “Made in China” - Etiketten auf dem Pflaster des Markusplatzes, enorme Werbeplakate vor historischen Fassaden, überdimensionale Kreuzfahrtschiffe bei der Einfahrt in die Stadt, McDonald’s und Burger Kings, Wohnungen und Treffpunkte von Arbeitsimmigranten, Schlafstädte und Einkaufszentren auf dem nahe gelegenen Festland, farbige Straßenhändler auf der Flucht vor den Carabinieri - insgesamt Tausende von Fotografien, deren geballte Kraft gezielt und schnell Venedig-Klischees auflöst.

Venedig, so meint Scheppe in Anknüpfung an Guy Debord, ist integraler Bestandteil einer “Gesellschaft des Spektakels”, in der sich “die wirkliche Welt in bloße Bilder verwandelt”. Gegen die verfestigten Bilder aber blieben bloße Texte und ihre Argumente machtlos; die Gesellschaft des Spektakels lasse sich nur mit ihren eigenen visuellen Mitteln kritisieren.

Statistiken, Schaubilder und Kommentare rücken die Fotografien in einen theoretischen Kontext. Venedig wird analytisch gefasst als Prototyp einer Stadt im Schnittpunkt und Griff der internationalen Waren- und Personenströme. Nicht die historische Einzigartigkeit und die daraus resultierende Stadtgestalt prägen ihre soziale Realität. Vielmehr wird ihr Alltagsleben von den Mechanismen der Globalisierung bestimmt.

Zwei große Wanderungsbewegungen treffen in Venedig aufeinander: die “leisure based mobility” der Touristen und die “subsistence based mobility” der Immigranten. Diese Strömungen, die kanalisiert werden durch die abstrakten Regeln der Macht, des Geldes und des Gesetzes, sind für Venedig heute wichtiger als die große Vergangenheit, die bedeutenden Kunstwerke oder die einzigartige urbane Konfiguration. Die vorgebliche Besonderheit der Stadt ist nur noch ein Verkaufsargument, eine “unique selling position” im Kampf um die Marktanteile des internationalen Tourismus. Über die konkreten Lebensvollzüge entscheidenübergeordnete soziale und ökonomische Gesetze, die auf gleiche Weise in anderen europäischen Städten wirken. “Venedigs Bestimmtheit”, schreibt Scheppe, “liegt in seiner Normalität, nicht mehr in seiner berühmten Außergewöhnlichkeit. Mit der Entwicklung Venedigs zur Gewöhnlichkeit einer globalisierten, allen Notwendigkeiten des globalen Business unterworfenen Stadt ist die Auslöschung seiner Besonderheit beschlossen.”

Diesen Prozessen geht das Buch nach: an der Entwicklung des Wohnungsmarkts, auf dem auswärtige Investoren die einheimische Bevölkerung verdrängen; an der Kommerzialisierung des öffentlichen Raums durch Luxusgeschäfte, Läden des touristischen Massenbedarfs und die allgegenwärtige Werbung; an der zunehmenden Ausrichtung der städtischen Funktionen auf die touristische Nachfrage; vor allem aber an der Lage der Einwanderer. Ihnen ist mehr als die Hälfte des umfangreichen Werks gewidmet.

Zahlreiche Fallstudien präsentieren die Migranten, von der ukrainischen Putzfrau über den senegalesischen Hotelportier zum Henna-Tätowierer aus Bangladesch.

Diese Abschnitte gehören zu den eindrücklichsten des Buchs. Hier treten Menschen auf, die gewöhnlich unsichtbar bleiben: mit ihrer Geschichte, ihrer Arbeits- und Wohnsituation, ihren Gewohnheiten, ihren Kämpfen um Würde und Identität unter schwierigsten Bedingungen. Die Einwanderer, die am Rand der Gesellschaft gewöhnlich kaum wahrgenommen werden, gewinnen hier Präsenz. In diesen Texten und Bildern hat das Buch eine moralische Qualität, die umso überzeugender wirkt, als sie nicht programmatisch eingeklagt wird.

Auch die zweite große Gruppe von Fremden in Venedig, die Touristen, kommen in “Migropolis” ausführlich zu Wort. Sprachlos aber bleiben diejenigen, die trotz allen Touristengedränges noch immer die Mehrheit in der Stadt bilden: die Venezianer. Sie sind auf den Fotos allenfalls zufällig, in den Texten und Fallstudien überhaupt nicht vertreten. Folgerichtig ist das insofern, als “Migropolis” von der grundlegenden Annahme ausgeht, dass Venedig eine globalisierte Stadt wie jede andere sei. Das mag zwar in vieler Hinsicht richtig sein, für den Alltag der Einheimischen trifft es mit Sicherheit nicht zu. Wohnen und Arbeit, vor allem aber die Mobilität, entfalten sich in Venedig nach wie vor in einzigartigen Formen, wie zuletzt der Bremer Stadtsoziologe Thomas Krämer-Badoni an zahlreichen Gesprächen mit Venezianern gezeigt hat (Vivere a Venezia, Canova, Treviso 2005).

Indem es die Einheimischen konsequent ignoriert, bleibt das Venedig-Bild von “Migropolis” dagegen auf merkwürdige Weise unbalanciert, so, als seien für die “global city” die Dauerbewohner irrelevant. Die Untersuchung, deren großes Verdienst darin liegt, Unsichtbares in den Blick zu nehmen, schafft damit zugleich neue Ausgrenzungen. Das hat unmittelbare Folgen für die Analyse: Zu dem politisch brisanten Thema der Konflikte zwischen sesshafter Bevölkerung, Touristen und Zuwanderern trägt das Buch, außer einem gelegentlich vage angedeuteten Rassismusverdacht, nichts bei.