Wolfgang Scheppe leitet eine Klasse „Politik der Repräsentation“ an der Universität für Architektur in Venedig. Die Klasse hat sich die Stadt ihrer Zusammenkunft am Beginn des 21. Jahrhunderts zum Thema genommen, die vorliegende Publikation ist das Ergebnis ihrer Zusammenarbeit und sie hat es in sich. Mögen andere Venedig als Todesmetapher verbrauchen, im Karneval oder im Nebel fotografieren, hier wird die Stadt Marco Polos als Treffpunkt zweier Welten gefasst, die unsere Erde mehr und mehr zu einer Einheit „globalisieren“: die Welt des Reichentourismus und die Welt der Armutsmigration.

Kein Aspekt dieser Begegnung wurde ausgelassen. Trockene Statistiken und muntere Grafiken führen die globale Verteilung von Reichtum und Armut vor, stellen die unterschiedlichen Lebensalter-Erwartungen der 12 Länder gegenüber, aus denen die meisten Touristen und die meisten Immigranten Venedigs kommen (79,5 bzw. 69,6 im Durchschnitt), veranschaulichen die Zunahme des weltweiten Luftfracht- (800 % seit 1970) und Personenflug-Verkehrs (2200% seit 1950), vergleichen die zu erwartende Alterspyramide Italiens und des Senegal im Jahre 2050, erläutern, wann wie viele Prostituierte in Venedig anzutreffen sind und woher sie kommen, oder zeigen, welcher Vergehen illegale Einwanderer angeklagt werden, aus welchen Ländern sie stammen und woran sie sterben … Sie finden alles, was die soziale Situation Venedigs heute mitgestaltet, genau das, was Sie über diese wunderbare Stadt lieber gar nicht wissen wollen. Und in dieser Hinsicht ist Venedig heute eine entwickelte Stadt wie überall.

Die Kapiteleinteilung von „Migropolis“ folgt etwas zwanghaft dem Spielplan des seit den 1930er Jahren bekannten Monopoly. Da weiß man, wer kein Geld mehr hat, fliegt raus. Nun gut, aber ein Schema, dies sei mein einziger Einwand, das nicht aus dem Thema entwickelt wurde und es zu weit ins Spielerische zieht; eine ästhetische Drehung zu viel.

Das besondere an diesem Projekt ist, dass die Probleme der Migration sich nicht in langen Aufsätzen abgehandelt finden, sondern in Grafiken und vor allem in Bildstrecken veranschaulicht werden. Texte werden fast ausschließlich in präzise Fußnoten und Interviews verbannt. Die Fotografien wollen ausdrücklich nicht das sattsam bekannte Bild Venedigs wiederholen und vervielfältigen, sondern „die Bilder dienen hier dem Zweck, Fragen zu stellen und Probleme zu definieren“(S.19). In Fallstudien werden Touristen und Migranten befragt und fotografisch begleitet. Riesige Kreuzfahrtschiffe verstellen den Blick. Ganze Bildstrecken sind übergroßen wie übersehbar kleinen Plakatanschlägen gewidmet, dem Verpackungsmüll, gefälschten Markenwaren, Straßenhändlerangeboten, Ausweisen, Zäunen … Und immer wieder irritieren wunderschöne Luftaufnahmen der sterbenden und aktiven Industrien aus dem Umland unsere Erinnerungen an diese einzigartige Stadt.

Da gibt es eine Doppelseite, die den Ölverbrauch der elf Länder aus denen die meisten Touristen Venedigs kommen den elf Ländern gegenüberstellt, aus denen die meisten Immigranten kommen (47,25 zu 1,65 %). Man blättert um und sieht auf einer doppelseitigen Fotografie vor dem weltbekannten Prospekt zwei riesige Motoryachten am Ufer liegen. Winzig davor, erst auf den zweiten Blick zu erkennen, drei fliegende Händler zwischen den vorbeiströmenden Touristen. Venedig heute, ein alternativer Reiseführer, Aufklärung vom Feinsten.